Iran, Choubar Talesh bei Astara, Kilometer 5.814
Auf den letzte Kilometern unser Route zum Kaspischen Meer überqueren wir die Gebirgskette, die den Küstenstreifen vom restlichen Iran trennt. Vor dem Gebirge herrscht sehr trockenes Klima. Es ist heiß, der Boden ist karg und wenig Bewachsen. Wo dennoch Pflanzen zu sehen sind, befinden sich meist Bewässerungsanlagen. Die Landschaft ändert sich schlagartig, als wir den höchsten Punkt, einen Tunnel in über 2.200m Höhe durchqueren. Aus dem Dunkeln des Tunnels kommend, blinzeln wir einer saftig grünen, fast jungelartigen Vegetation entgegen. Ab hier geht es innerhalb weniger Kilometer nur noch abwärts bis zum Meer. Auch die einheimische Bevölkerung hat die Natur für sich entdeckt und picknickt überall an den Hängen der Berge. Leider ist auch das Umweltbewusstsein der Iraner nicht sonderlich ausgeprägt. Oft sitzen sie umgeben von leeren Plastikflaschen und anderem Müll. Der Anblick schmerzt und passend an dieser Stelle muss ich meinen anfänglichen Einruck über die Sauberkeit in der Türkei leider revidieren. Von Westen nach Osten gab es immer mehr Müll in der Landschaft zu beklagen. Müllbeseitigung auf asiatisch heißt Abfallsammlung in Metallbehältern und allabendliches Anzünden derselbigen, was zu einem denkbar ekelhaften, beißenden Gestank führt, der uns leider auch in den nächsten Wochen immer wieder verfolgen wird.
Wir rätseln ein wenig, warum die Iraner so weit hinauf in die Berge fahren um mit Ihren Familien im Grünen zu sitzen. „Gibt es denn am Meer keine schönen Plätze?“, hadern wir. Auf Meereshöhe angekommen, genauer gesagt ein wenig tiefer, denn das Kaspische Meer liegt 28m unter dem Meeresspiegel, scheint sich das Rätsel zu lüften. Es erwartet uns ein Anblick wie ich ihn mir in Vietnam vorstelle. Auf dem Streifen zwischen den steil ansteigenden Bergen und dem Meer befindet sich auf einer Breite von wenigen hundert Metern bis mehreren Kilometern Reisefeld an Reisefeld. Alles steht unter Wasser und wer mag schon ein Picknick in knietiefem Naß?
Wir suchen intensiv eine Straße, die uns bis ans Meer führt. Was sich als gar nicht so einfach herausstellt, denn als wir einen kleinen Weg finden, wird dieser immer enger und holpriger. Ein Einheimischer weist und schließlich den Weg und plötzlich stehen wir auf einem sandigen Strand am Meer. Wir sind uns unsicher ob man hier baden darf, da wir niemanden schwimmen sehen. Die Entscheidung wird uns schnell genommen, denn lange bleiben wir nicht unentdeckt und werden mit Fragen gelöchert. Routiniert mit Händen und Füßen erklären wir woher wir sind, was wir machen und was es mit diesem ungewöhnlichen Fahrzeug auf sich hat. Es dämmert bereits und mittlerweile halten uns etwa zehn Männer und Jugendliche auf Trab. Ein Fischer holt seine Tocher und schickt Esther zu ihr hinter eine kleine Fischerhütte zum Englisch üben. Doch die Fischerstocher ist nicht gerade gesprächig und außer einen kleinen Monolog seitens Esther findet kein Austausch statt. Merkwürdige Szene, doch ähnliche Situationen werden wir auf der weiteren Reise noch öfter erleben.
Doch es dauert nicht lange und es findet sich ein sehr gut englisch sprechender junger Mann ein. Er erklärt uns, dass wir heute Nacht besser nicht hier stehen bleiben sollten. Gefährlich wäre es zwar nicht unbedingt, aber man würde uns auch nicht in Ruhe schlafen lassen. Er bietet an, vor seinem Haus nächtigen zu können und so folgen wir seinem Motorrad auf einem kleinen Pfad.
Langsam schaukeln wir durch die Dunkelheit und ich versuche konzentriert die ganz üblen Löcher zu umfahren. Plötzlich sehe ich im Augenwinkel etwas aufblitzen. Schlagartig wird mir klar was gerade passiert sein muss. Wir sind an einem Stromkabel hängen geblieben, welches gerade durchgerissen ist. Yazer meint, da wäre nichts passiert, doch Augenblicke später kommt ein aufgebrachter Mann aus dem anliegenden Grundstück gerannt. Ich laufe ihm entgegen und entschuldige mich mehrfach für das Malheur. Yazer und der Kabeleigentümer diskutieren in Farsi. Ich biete an, das Kabel bei Tageslicht reparieren zu können, doch ich bekomme erklärt, dass dies nicht das Problem sei. Vielmehr wüsste man nicht, wie man die Leitung stromlos bekommt. Es müsse doch eine Sicherung geben, gebe ich zu verstehen, doch damit liege ich falsch, denn die illegale Leitung wurde direkt von einem Strommast abgezweigt. Ich erfahre weiterhin, dass der Mann nicht wegen das defekten Kabels aufgebracht ist, sondern weil er Angst hatte und habe, dass jemand zu Schaden kommt; dass ein Kind an das immer noch funkende Kabel greifen könnte. Doch nach einer halben Stunde ist die Gefahr gebannt. Irgendwie schaffen es die Männer das Kabel von der Hauptleitung zu trennen. Die Gemüter sind beruhigt und nun entschuldigt sich der Geschädigte mehrmals bei mir. Es täte ihm sehr Leid, dass er anfangs so aufgeregt war. Ich biete nochmal an, bei der Reparatur helfen zu wollen, doch dies wird freundlich abgelehnt. Ich bin angenehm überrascht wie unproblematisch hier solche Angelegenheiten gehandhabt werden.
Wir schütteln noch einmal die Hände und wollen weiter zu Yazers Haus, doch der gibt nun zu bedenken, dass unserer Fahrzeug wohl doch zu groß ist um bei ihm stehen zu können. Deshalb parken wir vorm Haus seiner Mutter, welches sich mitten in der kleinen Ortschaft Choubar Talesh befindet. Drinnen empfängt uns Yazers Frau, seine Mutter, Bruder und Schwester. Es gibt Tee, Eier mit Tunfisch und Brot. Wir sitzen, wie in Iran üblich, auf dem Boden, der komplett mit großen, bunten Teppichen bedeckt ist. Bis auf ein Bett gibt es keine Möbel. In einer Ecke steht ein Fernseher, an der Wand hängt ein kleines Regal. Yazer erklärt, dass die Möbel nun bei seinem Bruder und ihm stehen. Doch den Anblick fast leerer Wohnräume werden wir noch öfter zu sehen bekommen. Einrichtungsgegenstände sind in Iran Luxus, den sich kaum jemand leisten kann.
Wir sind müde und ziehen uns in unseren LKW zurück. Wir haben wieder viel neues Gesehen und Erlebt, doch unsere Stimmung ist getrübt, denn eigentlich hatten wir gehofft nach zahlreichen Übernachtungen an den Straßen, einen schönen und ruhigen Stellplatz am Meer zu finden. Und aus von Yazers als Villa bezeichneten Haus, in dessen Hof inmitten eines großen Gartens wir hätten stehen sollen, ist nun die Ortsmitte eines Dorfes geworden, in dem auch noch nach Mitternacht der Winkelschleifer kreischt: Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wird gerade ein Geschäft ausgebaut.
Den nächsten Tag verbringen wir noch einmal mit dem Versuch, im 20km entfernten Astara, der Grenzstadt zu Azerbaijan, eine Tankkarte zu bekommen. Auch hier laufen und fahren wir von Behörde zu Behörde und werden schließlich vom Bürgermeister empfangen. Aber auch in Astara bleibt die Tankkarte ein für uns nicht verstandenes Geheimnis. Zwar sind wir optimistisch, auch ohne die Karte Tanken zu können, doch wäre es interessant gewesen heraus zu bekommen, wie man eine Karte bekommt oder warum nicht – und wenn es nur als Information für andere Overlander dient.
Zurück in Choubar Talesh klingelt mein Handy. Es ist Behrouz, von der Türkisch-Iranischen Grenze. Er hat einen weiteren deutschen Touristen gefunden, der ebenfalls auf der Suche nach der Tankkarte ist. Ich erkläre Johannes, er soll sich die Mühe sparen und mit Hilfe anderer LKW-Fahrer tanken. Wenn er sich eine SIM-Karte besorgt, könnte man in Kontakt bleiben und sich später eventuell persönlich treffen.
Während meines Telefonats hat Yazer einen Bekannten getroffen, einen Unternehmer, mit dessen Hilfe wir 200 Liter tanken und sogar von ihm geschenkt bekommen. Bei einem Preis von 165 Rial (1,3 Eurocent) pro Liter, also insgesamt unglaubliche 2,60 Euro. Wir bedanken uns bei Amir – in Deutschland oder der Türkei hätte diese Tankfüllung über 200 Euro gekostet.
Wieder werden wir eingeladen, diesmal von Amir. Wir wollen ablehnen, denn eigentlich hatten wir vor, ein paar Fotos auf dem Notebook zu sortieren, um sie Yazer und seiner Familie zu zeigen. Doch die Einladung abzulehnen wäre sehr unhöflich, erklärt uns Yazer und so fahren wir mit dem LKW auf Amirs Grundstück.
Das große Anwesen besteht aus zwei großen Häusern und einem weiteren im Rohbau, die von einer Obstplantage umgeben sind. Spätestens beim Betreten des Hauses wird offensichtlich, dass es sich hier um eine besser situierte Familie handelt. Von der Veranda gelangen wir direkt ins Wohnzimmer. Feine Gardinen und eingelassene Verzierungen in den Wänden schmücken den Raum. An den Wänden stehen mehrere Sofas, vor einem ein kleiner Couchtisch. Ansonsten ist die Mitte des großen Raumes leer, denn selbstverständlich wird auch hier auf dem Boden gespeist. Esther ist begeistert von den riesigen Teppichen, mit ihren leuchtenden Farben und feinem Muster. Ein Blick in die Küche zeigt einen für Iran eher seltenen Anblick im westlichen Standard.
Neben Amir sind seine Frau, vier Töchter, ein Sohn, ein Enkel, sowie Yazer anwesend. Wir bekommen Früchte und Nüsse gereicht, erzählen von unserer bisherigen Reise und dem Leben in Deutschland. Amir ist sehr daran interessiert englisch zu lernen und blättert ständig in einem dicken Farsi/English Wörterbuch. Ich hole mein Notebook aus dem Auto, um ihm unsere Sprachlernsoftware von Rosetta Stone zu zeigen. Ich erkläre die Besonderheit, dass nicht mit Übersetzungen gearbeitet wird, sondern man ausschließlich anhand von Bildern lernt, dem gleichen Prinzip wie auch Kleinkinder sprechen lernen. Er ist begeistert und bestellt am nächsten Tag über seinen Sohn in Tehran gleich alle drei Lern-Stufen der Software.
Inzwischen sind drei Stunden vergangen, in denen die Frauen ein kleines Festmal zubereitet haben. Es wird mariniertes Hähnchen mit Kartoffeln und Möhren gereicht, welches absolut köstlich schmeckt.
Am nächsten Tag widmen wir uns einer weiteren Aufgabe, dem Auffüllen unserer Gasflasche, denn die war bereits halb leer als wir aus Deutschland los fuhren. Was ich auf Grund der unterschiedlichen Anschlusssysteme als größeres Problem befürchtete, erledigt sich schneller als ich fotografieren kann, denn Amir besitzt unter anderem eine Fabrik in der Gasflaschen gefüllt werden. Dort wird unsere Flasche in Windeseile und professionell gefüllt. Glücklich nehme ich die volle Flasche entgegen, mit der wir sicherlich die nächsten Monate auskommen werden, da wir mit dem Gas ausschließlich Kochen.
Amir zeigt uns seine zweite Fabrik, eine Produktionsstraße zur Herstellung stabiler Kunststoffsäcke, die wir vielerorts zum Transport von Reis und anderer Lebensmittel sehen konnten. Selbst die Kunststofffäden, aus denen die Säcke genäht sind, werden in der Fabrik hergestellt.
Ich schieße einige hochwertige Fotos, die ich Amir auf seinen Rechner im Büro übertrage und er später mal für eine Broschüre verwenden kann.
Amir hat einen ruhigen, angenehmen Charakter. Wir fühlen uns wie zu Besuch bei alten Bekannten. Auch seine Mitarbeiter scheinen gerne für ihn zu arbeiten. Man behandelt sich wie Freunde, was wir auch beim gemeinsamen Essen in der Fabrik empfinden. Die Männer bereiten fröhlich gelaunt in einer kleinen Küche ein frisches Hähnchen zu, welches sie anschließend hinter dem Haus auf einem kleinen Grill rösten. Dazu essen wir Reis, Tomaten, Gurken und frische Zwiebeln. Auch hier schmeckt uns das Essen sehr gut und auch hier ist das Wörterbuch Farsi/English ein ständiger Begleiter unserer Gastgeber. Doch um die gegenseitige Sympathie zu vermitteln braucht es kein Wörterbuch.
Mit großem Dank und inniger Umarmung verabschiede ich mich von Amir und wir brechen auf, um weiter an der Küste entlang Richtung Rasht zu fahren.