Tibet im Winter


Zum Artikel: Tibet im Winter09.01.2010
Tibet im Winter

Markam, Tibet, Kurz vor der Provinz Yunnan,
Kilometer 25.067

Die Genehmigungen sind eingeholt, der Guide organisiert, wir sind bereit. Das Abenteuer Tibet startet in die zweite Runde. Kommen wir tatsächlich im Winter über das Himalaya-Gebirge? Durch die chinesischen Auflagen haben wir erneut einen straffen Zeitplan, der uns kaum Puffer für unvorhergesehene Fälle gibt – doch die lassen nicht lange auf sich warten…

09.01.2010 – Markam, Tibet, Kurz vor der Provinz Yunnan, Kilometer 25.067

Tibet-2_04.jpgUnsere kleine Reisegruppe,  Heike, Daniel mit  Motorrad, Helga und Jürgen im VW-Bus, Esther und ich, sowie unser Guide Lagbar, sind keine 48h in China und hängen unserem Zeitplan durch die lange Grenzabfertigung bei Zhangmu schon einen Tag hinterher. Auch am nächsten Morgen schaffen wir keine 5km und müssen schon wieder warten. Eine Baustelle behindert die Weiterfahrt.
Ein Bagger hebt mitten aus der Straße ein großes Loch aus. Da kommt niemand durch. Die eigentliche Baustelle ist jedoch der gesamte Hang, der nur aus Geröll besteht. Wir kennen die Stelle schon von unserer ersten Tibetfahrt und vor vier Monaten sah die Engstelle genauso aus. In Anbetracht der Tatsache, dass die restliche Strecke gut ausgebaut ist, muss es sich hier wirklich um eine bautechnische Herausforderung handeln.

Tibet-2_03.jpgEs ist Stockfinster, bis wir weiterfahren können. Die Baustelle liegt erst wenige Kilometer hinter uns, da quakt es aus dem Walkie-Talkie. Daniel, unser Motorradfahrer, warnt uns vor einer Eispassage in einer Kurve. Er konnte noch geradeaus schlittern, doch beim Anfahren rutsch ihm die schwere Maschine weg. In der Dunkelheit erkennen wir trotz der Warnung den gefrorenen Wasserlauf viel zu spät und können ebenfalls nur noch gerade drüber rollen. Wir helfen Daniel das Motorrad wieder aufzurichten und setzen die Nachtfahrt fort. Es bleibt nicht bei dieser einen Eispassage. Immer wieder fließt Wasser über die Straße und ist zu einer gefährlichen Eisschicht gefroren.
28km später kommen wir heil in Nyalam an. Die kurze Strecke war eigentlich schon für gestern geplant. Das Städtchen liegt bereits in 3.780m Höhe. Die letzte Nacht in Zhangmu verbrachten wir auf 2.200m. Ein großer Höhenunterschied, doch uns bleibt nichts anderes übrig, als diesen Sprung zu wagen. Deshalb dient der nächste Tag zu Akklimatisierung. Esther, Helga und Heike kämpfen ein wenig mit der dünnen Luft und gehen alles ein wenig ruhiger an, während Daniel anfängt sein Motorrad auseinander zu schrauben. In Indien drängte ihn ein LKW-Fahrer von der Straße und er rutsche mitten in einen Tee-Laden. Ihm passierte nichts schlimmes, aber seine BMW, die 21 Jahre alte „Marianne“, hat einiges abbekommen. Doch das „gleitende Stahlross“, wie wir ihn seit der gestrigen Schlitterpartie nennen, lässt sich nicht so leicht unterkriegen.

Tibet-2_02.jpgZu besseren Höhenanpassung entschließt sich ein Teil der Gruppe ein Stück aus Nyalam herauszufahren, um die Nacht auf 4.230m zu verbringen. Wir befinden uns inmitten einer nahezu vegetationslosen, kargen Fels- und Gerölllandschaft. In der Nacht wird es eisig kalt. Durch die dünne Luft schlafen alle schlecht, bis auf Lagbar, unserem Guide. Als Entschädigung können wir einen wunderschönen Sternhimmel bewundern. Mangels Guesthouse schläft Lagbar bei uns im LKW auf der warmen Fußbodenheizung. Daniel muss warten bis ein Metallkleber getrocknet ist. Er und Heike bleiben in Nyalam und kommen morgen nach.

Am nächsten Morgen zeigt das Thermometer -13°C. Wir haben aus Nepal noch Reste von schlechtem, nicht wintertauglichem Diesel im Tank. Im Schauglas unseres Wasserabscheiders schwimmt eine milchige Brühe. Vorsorglich wärme ich den Filter vor – mit Hilfe einer Haarspray-Dose und Feuerzeug per Flammenwerfer.
Wir starten zum ersten 5.000er Pass. Kurz vor der Passhöhe, nimmt der Magirus kein Gas mehr an und bleibt fast stehen. Ich tippe auf die beiden Dieselfilter. Ersatz haben wir dabei und der Austausch ist normalerweise kein Akt, doch in dieser Höhe strengt jeder Handgriff doppelt und dreifach an. Über Funk teilt uns Helga mit, dass es Jürgen nicht gut geht und ihm plötzlich schwindelig wird. Sie sind ein Stück voraus und beeilen sich schnell über den Pass zu kommen.
Die neuen Filter sind montiert, doch wir kommen keine 100m weiter. Ich stehe voll auf dem Gas, doch der Motor hat keine Power. „Die Filter sind entlüftet, was kann das jetzt sein, zum Henker?“ Uns wird ein wenig mulmig. Ein technisches Problem in dieser Höhe kann schnell auch zu einem Gesundheitlichen werden. Im Notfall könnten wir den Pass wieder hinunter rollen, aber eine Lösung ist das keine. Da fällt mir der Filter im Wasserabscheider ein. Den haben wir erst vor kurzem getauscht, doch tatsächlich ist er bereits komplett schwarz vor Schmutz. Der Filter ist flink gewechselt, es kann weitergehen.
Wenig später überholt uns Daniel mit Heike auf dem Motorrad. Sie haben uns eingeholt. Das Team ist wieder komplett.

Tibet-2_06.jpgViele Kilometer und Pässe später erreichen wir Shigatse, mit 3.800m Chinas höchst gelegene Stadt. Neben der geplanten Besichtigung des Tashihunpo Klosters, dem Sitz des Panchen Lama, stehen noch einige Formalitäten an: Wir brauchen den chinesischen Führerschein. Im Gegensatz zu unserer ersten China-Fahrt, müssen wir tatsächlich mit den Fahrzeugen beim chinesischen TÜV vorfahren und eine Fahrprüfung machen. Die sieht so aus, dass Jürgen und ich 10min einem Polizeiauto folgen. Anschließend bekommen wir im Büro, von einer scheinbar wichtigen Person, die wichtigsten Verkehrsregeln erklärt und werden einem Sehtest unterzogen. Unser Guide läuft derweil von Büro zu Büro und sammelt Unterschriften. Nach gut drei Stunden haben wir alle Papiere zusammen.
Daniel mit seinem Motorrad scheint einen Sonderstatus zu haben – er braucht keinen Führerschein und keinen TÜV. Sein chinesisches Nummernschild, ein laminiertes Stück Papier, bekommt er dennoch.
Etwas Gutes hat die Sache in jedem Fall: Auf dem Bremsen-Prüfstand bekommen wir die Funktionstüchtigkeit unserer Bremse bestätigt. Nachdem wir in Indien einmal Probleme damit hatten, beruhigt das.


Tibet-2_05.jpgAls wir am nächsten Tag aus dem Fenster schauen schneit es. Die Kälte macht unseren Fahrzeugen zu schaffen. Daniel schüttet heißes Wasser über die Zylinder vom Motorrad und muss lange Orgeln bis seine „Marianne“ anspringt. Bei Jürgen springt der VW-Bus gar nicht mehr an. Ausgerechnet jetzt fällt bei uns die Flammstartanlage aus. Sie erhitzt normalerweise die Luft im Ansaugstutzen und hilft bei niedrigen Temperaturen zu einem sanfteren Motorstart. Jetzt muss es ohne diese Vorrichtung gehen – tut es auch. Wir qualmen wie ein Nebelwerfer, doch der Magirus springt sofort an. Wir sind stolz auf unseren 35 Jahre alten LKW.
Jürgens Bus hängen wir an die Abschleppöse und ziehen ihn ein Stück. Dann springt auch sein Fahrzeug an.
Unsere Fahrt führt durch eine malerische Schnee-Landschaft. Doch zum Genießen bleibt kaum Zeit – die Straße ist teilweise spiegelglatt. Zum Glück führt unsere Route über eine relativ ebene Strecke ohne große Steigungen. Dennoch sehen wir viele Unfälle. Komischerweise ist oft die Polizei darin verwickelt. Doch so verwunderlich ist es eigentlich doch nicht, denn viele Fahrzeuge, die hier verkehren, sind Polizeiautos.

Wir kommen an eine glatte Passage mit leichtem Gefälle. Busse und LKW stehen Kreuz und Quer. Wir überlegen die Schneeketten aufzuziehen und halten an. Dabei rutscht unser LKW ein wenig Richtung Graben. Wir sichern den Wagen mit Steinen, doch der Versuch die Schneeketten aufzuziehen scheitert. Es ist zu glatt um zu rangieren. Esther legt die Ketten ausgebreitet vor die Reifen, damit wir drüber fahren können und mehr Grip haben. Ich starte den Motor und rolle beherzt an den anderen Fahrzeugen vorbei. Esther rennt mit den Schneeketten neben dem LKW her, jederzeit bereit die Ketten unter die Reifen zu werfen, sollte das Fahrzeug anfangen zu rutschen. Ganz schön mutig.

Tibet-2_07.jpgSpäter stehen wir erneut an einem Gefälle, an dem sich ein Unfall ereignet hat. Ein Van ist quer in einen Polizei-Toyota geschleudert. Der Fahrer sitzt noch im Auto. Er scheint eine Gehirnerschütterung zu haben. Etwas weiter hängt ein Jeep in der Wasserrinne.
Hier geht erst mal nichts mehr. Dennoch zwängen sich einige PKW an der engen und glatten Unfallstelle vorbei. Wir warten nur drauf, dass gleich der Nächste in die havarierten Fahrzeuge rutscht. Damit dies nicht passiert und ich mir die Zeit sinnvoll vertreibe, packe ich unsere Schaufel und schleudere Sand und Steine auf Straße. Nachdem immer mehr Fahrzeuge erfolgreich die Unfallstelle passieren, setzen auch wir uns wieder in Bewegung.

hot-pot.jpgHeute ist Silvester. Wir sind etwas spät dran, aber wir schaffen es noch nach Lhasa, in die Hauptstadt Tibets. Dort gehen wir zur Feier des Tages in ein Hot-Pot Restaurant. Der Feuertopf ist die chinesische Variante des Fondue, nur mit siedender, scharfer Brühe, statt Käse. Das besondere dabei sind die außergewöhnlichen Zutaten, die zum Garen in den gusseisernen Topf in der Mitte des Tisches gehalten werden.
Bei unserem letzten Besuch in Lhasa hatten Esther und ich schon einmal viel Spass beim Hotpot-Essen und dachten es wäre ein Gutes dieses Erlebnis an Silvester zu wiederholen. In der Tat ist es ein Erlebnis, doch die Zutaten sind diesmal etwas zu außergewöhnlich für uns Europäer. Da wir kaum eine der gut hundert verschiedenen Zutaten kennen, geschweige denn von der Speisekarte bestellen können, übernimmt dies unser Guide Lagbar. Wir wollen gerne Gemüse, doch er bestellt vor allem jede Menge Pilzsorten – das ist zwar sehr landestypisch, aber gar nicht Esthers Geschmack. Die Brühe im Topf fängt an zu sieden und wir fangen an, alles Mögliche hinein zu werfen. Wir haben Hunger! Beim Herausangeln der Gemüse- und Kartoffelscheiben entdecken wir weitere interessante Dinge, die bereits in der Brühe schwimmen: Hühnerfüße und der dazugehörige Hühnerkopf. Den Kopf kennen wir schon von unserer ersten Tibet-Fahrt. Damals landete er frittiert auf dem Teller. Aber auch Hühnerfüße sind keine Seltenheit. Die gibt’s hier im Supermarkt vakuumverpackt in allen Geschmacksrichtungen gleich neben den Gummibärchen zu kaufen. Wir haben auch ein Füßchen gekauft – aber nicht zum Essen, sondern als Souvenir. Doch hier schwimmen die Füße im Topf. Zimperlich darf man da wirklich nicht sein. Wir umschiffen die besonderen Leckerbissen geschickt mit unseren chinesischen Stäbchen, die für vor allem für Daniel ein zusätzliches Hindernis darstellen satt zu werden. Doch irgendwie schaffen wir es alle unseren Hunger zu stillen.
Ein Erlebnis war es wieder, das Hot-Pot-Essen, wenngleich etwas anders als beim letzten Mal. In Yunnan werden wir noch ganz andere Zutaten in der Küche entdecken…

Wir lassen den Abend gemeinsam in der Music Bar ausklingen. Ein winziger, aber total chilliger Laden. Wir stoßen gemeinsam auf das neue Jahr an. Das mit den Vorsätzen machen wir etwas anders als üblich: Jeder zieht den Namen eines Anderen und denkt sich für ihn einen passenden Vorsatz aus. Jürgens Vorsatz an mich: Ich solle weiterhin so unterhaltend bleiben. Helga gibt Esther den Tipp jeden Moment zu genießen – sicherlich auch nicht verkehrt, auf einer Langzeitreise kann es passieren, dass die viele besonderen Momente einen gar nicht mehr bewusst sind.
Wir nehmen gemeinsam ein Taxi zurück ins Hotel. Für morgen sind einige Dinge zu erledigen und müssen früh raus.
 

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Vor zwei Tagen ist uns ein Kamera-Objektiv kaputt gegangen. Die Blende klemmt. Ärgerlich, wo uns wieder so viele schöne Motive vor die Linse springen. Lhasa stellt die einzige Möglichkeit dar, in den nächsten Tagen Ersatz zu bekommen.
In einem modernen Elektronik-Kaufhaus finden tatsächlich eine kleine Canon-Vertretung. Erwartungsgemäß kann man das Objektiv dort nicht repariert lassen, sondern müsste eingeschickt werden. Das würde nur drei Tage dauern, doch selbst die fehlen uns. Das einzige verfügbare Profi-Objektiv ist ein 17-40mm 1:4.0. Damit fehlt mir der Bereich von 40-70mm, doch besser als nichts.
Tibet-2_08.jpgMit 650 Euro weniger in der Tasche geht’s ans nächste Todo: Simmerring-Austausch am Getriebe. Seit meinem erfolglosen und eigentlich unnötigen Reparaturversuch in Delhi tropft es mehr als vorher. Wieder hilft es uns, schon mal in Lhasa gewesen zu sein. Wir kennen den Geschäftsführer einer großen Toyota-Niederlassung. Auch diesmal bekommen wir tatkräftige Unterstützung von den Mechanikern – und die sind mächtig interessiert an unserem Gefährt. Zuweilen acht Mitarbeiter drängen sich um und unter das Fahrzeug. Die größte Schwierigkeit stellt das Entfernen des alten Wellendichtrings dar, ohne dabei den Flansch zu verdellern. Wir versuchen mit allerlei interessanten Spezialwerkzeugen den Ring zu entfernen, bis es uns schließlich gelingt.
Andrea und Uwe konnten uns bereits Ersatzringe nach Delhi schicken. Den 30 Cent Ringen vom Kashmir-Gate trauen wir nicht und bauen die 50-fach teurere Variante aus Deutschland ein. Die Aktion dauert bis in die Abendstunden. Das abschließende Befüllen mit 11 Liter neuem Getriebeöl benötigt über eine Stunde, da die Hand-Pumpe der Werkstatt nicht richtig funktioniert. Eigentlich ist schon längst Feierabend und mir ist es unangenehm, dass alle nur noch wegen mir nicht nach Hause kommen.
Endlich ist die Ölkontroll-Markierung erreicht. Wir sind fertig. Die Jungs haben sehr gute Arbeit gemacht. Es ist die einzige Werkstatt unserer bisherigen Reise, mit dessen Arbeit wir zufrieden sein konnten. Inklusive Öl bezahlen wir einen Freundschaftspreis von nur 50 Euro. Geschenkt!

Tibet-2_09.jpgWährend ich in der Werkstatt war, hat sich Esther den Tag mit einem Besuch des Jokhang Tempel versüßt. Vor vier Monaten waren wir bereits dort, doch diesmal war es anders: Keine Touristen, dafür viele Pilger. Denn im Winter verirrt sich kaum ein Tourist ins kalte Tibet, doch die Einheimischen haben nun Zeit zum Pilgern, denn die Ernte ist eingebracht und die Arbeit auf dem Feld bis zum Frühjahr getan.
Tibet-2_10.jpgAm nächsten Tag folge auch ich dem lebhaften Treiben um den Jolhang Tempel, dem sogenannten Bharkor. Die Gläubigen pilgern hier mehrfach im Kreis um die Tempelanlage. Besonders Gläubige laufen nicht, sondern werfen sich nieder und messen so mit ihrem Körper die Strecke ab.
Viele von ihnen sind weit hergereist. Manche legen enorme Distanzen zu Fuß zurück. Später sehen wir Pilger auf der Landstraße die sogar die Anreise in Form von Niederwerfungen zurücklegen.

Daniel hat sich etwas eingefangen. Es geht im sehr schlecht. Doch unser strenger Zeitplan bietet keinen Puffer um weiter in Lhasa zu bleiben. Wir organisieren einen Pickup und verladen die BMW.
Die bevorstehende Strecke soll schlecht sein und der Fahrer des Pickup drängt um 4:00 Uhr morgens zum Aufbruch. Doch die Straße ist in gutem Zustand. Später wird uns klar, dass der Fahrer nur am gleichen Tag wieder zurückfahren wollte.

Tibet-2_12.jpgNach vielen Tagen überwiegend felsiger und trockener Landschaft, ändert sich nun das Bild. Glasklare Flüsse schlängeln sich durch dichte Nadelwälder. So stellen wir uns Kanada vor.
Auch die Art der Haustiere ändert sich. Am Wegrand entdecken wir immer wieder schwarze, haarige Schweinchen. Mehr als einmal müssen wir hart Bremsen um den Tieren kein vorzeitiges Ende als Schweinebraten zu bescheren.

Tibet-2_19.jpgAm nächsten Tag geht es Daniel kaum besser, doch er nimmt die bevorstehenden 240km wieder auf seinem Motorrad in Angriff. Es ist eine anstrengende Etappe, vor allem auf dem Zweirad. Hinter jeder Kurve, in jeder schattigen Passage müssen wir mit einer geschlossenen und gefährlich glatten Schneeschicht rechnen. Auf den vereisten Passagen fährt Daniel in Schrittgeschwindigkeit – wir sind kaum schneller unterwegs.
Fast ohne Pausen fahren wir in die Nacht hinein. Dann hört die Straße plötzlich auf und eine abenteuerlich in den Berg geschlagene Schotterpiste beginnt. Auf einem Teilstück ging kürzlich eine Gesteinslawine runter. Im Scheinwerferlicht bauen wir eine Rampe aus Steinen, damit der VW-Bus über die steile Passage kommt und nicht mit der Ölwanne aufsetzt. Bodenfreiheit haben wir genug, doch auch wir werden kräftig durchgeschüttelt.

Tibet-2_16.jpgNachts um halb zwölf, kurz vor der Geisterstunde, kommen wir an. Doch die Gespenster, oder besser Fehlerteufel, lassen sich hier ganz ungeniert tagsüber blicken. Denn keine 70km kommen wir am nächsten Tag, dann streikt der VW-Bus. Bereits gestern mussten wir auf einem wunderschönen Pass in 4.500m Höhe den Orangetrotter erneut mit dem LKW anziehen. Wir vermuteten, dass die Höhe dem Motor zu schaffen macht. Wir legen den Bus wieder an die Leine und ziehen ihn einen Kilometer durch die Berge, doch nun scheint endgültig Schicht im Schacht zu sein. Jürgen und Daniel diagnostizieren den Total-Ausfall der Dieselpumpe.
Wir befinden uns mitten in der Pampa. Der nächste größere Ort liegt 160km entfernt. Es wäre Wahnsinn den Bus so lange durchs Gebirge abzuschleppen. Zwar gibt es hier einige Häuser, doch die gehören zu einem Militärstützpunkt. Hilfe bekommen wir keine. Selbst die Frage, ob wir den Wagen zur Reparatur in eine Garage auf dem Gelände schieben dürfen, wird verneint. Das hätte wenigstens gegen die Kälte geholfen. Denn wir stehen in einer Schlucht auf 3.300m und obwohl es erst drei Uhr ist, verschwindet die Sonne bereits hinter einem Gebirgszug. Schlagartig wird es kälter und ein eisiger Wind macht die Reparatur, die ohnehin kompliziert genug ist, nicht gerade leichter. Da die Diesel-Einspritz-Pumpe bereits in der Türkei getauscht wurde, hat Jürgen noch die alte Pumpe als Ersatz dabei. Allerdings ist die Reparatur ein Griff ins Eingemachte. Respekt.
Tibet-2_17.jpgHelga leistet Jürgen bei der Reparatur moralischen Beistand, alle Anderen verkriechen sich zu uns in den LKW. In solchen Momenten rechnet sich die aufwendige Installation unserer Fußboden und Wandheizung. Es ist mollig warm und Esther kocht Tee für die Mannschaft. Die Stimmung ist gut, trotz der unsicheren Lage ob die Reparaturversuche und das Einstellen des Motors glücken.
Es vergehen Stunden und es ist bereits Dunkel als Jürgen den Abschluss seiner Reparatur verkündet. Einen Test will er erst morgen bei Tageslicht wagen. Weiterfahren können wir heute ohnehin nicht mehr. Doch ein Guesthouse gibt es hier nicht, selbst Home-Stay wird abgelehnt. So quartieren wir Daniel bei uns auf dem Fußboden ein, Heike bauen wir aus Sandblechen und Isomatten ein Bett im Fahrerhaus und schalten dort die zweite Standheizung ein.

Tibet-2_18.jpgAm nächsten Morgen bestätigt Daniel, er habe seit Nepal nicht mehr so schön mollig warm geschlafen. Denn selbst in den großen Hotels in Tibet gibt es für gewöhnlich keine Zentralheizung. Allenfalls ein Heizlüfter sorgt dafür, dass die Temperatur im Hotelzimmer auf stolze 10°C gehalten wird. Jürgen und Helga ist bereits in Lhasa das Gas ausgegangen, womit sie den Bus lediglich auf ein paar Grade über Null halten wollten. Auch sie weichen nun gelegentlich zum Schlafen auf ein frostsicheres Hotelzimmer aus. Wir bleiben unserem LKW treu, warum sollten wir auch ein kaltes Hotelzimmer unserem warmen LKW vorziehen? 🙂
Es dauert bis 13:15 Uhr bis alle Fahrzeuge aufgetaut und startklar sind. Jürgen nimmt noch ein Feintuning am Motor vor und ich zünde ein kleines Feuer unter Daniels BMW an.

Tibet-2_20.jpgDer neue Tag begrüßt uns mit einer Wellblech- und Schotterpiste und das nächste Problem lässt keine 60km später auf sich warten. Unter dem Orangetrotter tropft es heftig. Ein Kühlwasserschlauch hat ein Loch.
Wir befinden uns in Ranwu auf 3.950m. Einige wenige Häuser säumen die einzige Straße durch den Ort. Wir durchsuchen den Müll einer kleinen Werkstatt vergeblich nach einem Ersatzschlauch. Letztlich lässt Jürgen aus einem alten Fahrrad-Rahmen ein Ersatz-Winkelstück schweißen und baut es ein. Nach drei Stunden ist der VW-Bus wieder fahrbereit. Doch inzwischen geht es Daniel wieder schlechter. Bereits heute Morgen war er so schwach auf den Beinen, dass er sich immer wieder hinsetzen musste. Also organisieren wir parallel zur VW-Bus-Reparatur eine Transportmöglichkeit für das Motorrad. Abenteuerliche Ideen haben die Tibeter hier: Sie sind ernsthaft der Meinung, das Motorrad würde in einen Mini-Van passen. Auf der Ladefläche eines kleinen LKW stopfen wir die BMW zwischen einige Möbel. Daniel legt sich bei uns ins Bett.

Es ist wieder mal Dunkel, bis wir weiterfahren können. Nach 90km erreichen wir Baxoi, unser gestriges Tagesziel. Dort sind wir die Attraktion des Tages. Eine Gruppe von gut 20 Tibetern folgt uns auf Schritt und Tritt, beobachten uns, als kämen wir von einem anderen Stern. Als wir uns im nächsten Restaurant stärken, können Sie sich jedoch überzeugen, dass wir auch nur Menschen aus Fleisch und Blut sind.

Tibet-2_21.jpgAm nächsten Morgen versuchen wir die nächste Transportmöglichkeit für das Motorrad zu organisieren. Waren die letzten Preise schon knackig, bekommt Daniel nun Preise von über 200 Euro für das nächste Teilstück genannt. Not macht erfinderisch. Wir grübeln, wie die BMW am-auf-unter unserem LKW verstaut werden könnte. Eine abenteuerliche Konstruktion entsteht: Aus einer Stahlstange basteln wir einen Abschlepphaken für die Anhängerkupplung, und verzurren diese mit dem Vorderrad. Gegen ein Umkippen spannen wir die Maschine an den oberen Container-Ecken ab. Wir betrachten unser Werk. Obwohl wir ernsthaft an die Sache gingen, müssen wir lachen. Es ist vollkommener Unsinn mit solch einer Konstruktion die nächste Etappe in Angriff nehmen zu wollen. Am späten Abend finden wir doch noch eine (teure) Transportmöglichkeit für das Motorrad auf einem kleinen LKW.

Der nächste Tag fordert noch einmal alles. Wir starten um 8:00 Uhr. 371km Asphalt, Wellblech, Schotter, Eis. Tausende Kurven, Höhenunterschiede von 2.500m, mehrere Viertausender- und ein Fünftausender-Pass liegen vor uns. Unterwegs rutscht mir zum ersten mal auf der Reise richtig das Herz in die Hose: Wieder einmal ist ein kleiner Wasserlauf über der Straße zu einer dicken, langen Eispassage angewachsen. Vorsichtig rollen wir im Schneckentempo darüber. Plötzlich fängt das ganze Fahrzeug an langsam seitlich Richtung Abhang zu rutschen. Eine tiefe Fahr-Rinne im Eis fängt den LKW wieder auf und der Spuk ist vorbei. Ein wirklich extrem unangenehmes Gefühl, wenn sich 8 Tonnen Fahrzeugmasse unter dem Hintern quer zur Fahrtrichtung ins Nichts bewegen. Um 23:0 Uhr erreichen wir Markam auf 3.900m. Völlig fertig schlafen wir sofort ein, allerdings auf Grund der Höhe nicht sonderlich gut.

Dies war unser letzter Tag in Tibet! Für unseren weiteren Weg nach Laos werden wir ab Morgen durch die chinesische Provinz Yunnan fahren.

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