Silivri/Istanbul, Türkei, Kilometer 2.675
Es dauert, bis wir alle losen Sachen im Wohnaufbau reisesicher verstaut haben. Es ist schon später Nachmittag. Doch für eine kleine Stärkung vom liebgewonnenen Köfte- und Çay-Stand direkt neben unserem LKW muss es noch reichen, dann wollen wir aufbrechen. Weit ist es nicht bis Istanbul, vielleicht eine Stunde, doch wir wollen sichergehen noch bei Tag dort anzukommen. Wer weiss, wo wir dort einen Stellplatz finden.
Ich sitze schon im Fahrerhaus, will gerade den Starterknopf ziehen, da ruft jemand zu mir hoch: „Kann ich irgendwie helfen?“. Ich verneine, alles sei bestens. Doch wir kommen auch ohne Problem ins Gespräch. Bekir arbeitete fünf Jahre in Österreich, wohnt nun seit 13 Jahren hier. Seit dem habe er kein Deutsch gesprochen, was ich bei seiner nahezu akzentfreien Aussprache kaum glauben mag. Er strahlt während unseres Gesprächs über beide Ohren. Ich lache zurück. Dieser Mann ist mir vom Fleck weg sympathisch. Wir erzählen, schon zwei Tage hier zu stehen, bedauerlich sich jetzt erst zu begegnen. Er möchte uns zum Essen nach Hause einladen, doch wir lehnen schweren Herzens ab. Mental sind wir schon in Istanbul, versprechen aber, sollten wir wieder über diese Route zurückkommen, uns bei Ihm zu melden. Adressen werden ausgetauscht.
Ich gebe noch ein paar Daten ins GPS ein, starte den Motor und setze langsam zurück, da kommt Bekir noch einmal zurück gelaufen, reicht mir ein nagelneues Taschenmesser durch das Fenster. Er wolle mir was schenken, es sei das einzige, was er dabei habe. Ablehnen vergeblich. Wir freuen uns über diese Freundlichkeit – und über das Taschenmesser, denn bei all den vielen Sachen die wir dabei haben, ein Taschenmesser fehlte uns. Er gibt uns noch den Tipp langsam zu fahren, je später wir in Istanbul ankommen desto besser. Dann gebe es auch keinen Berufsverkehr mehr. Ein Tipp, den wir drei Tage später fahrlässig missachten.
Unsere Bedenken in der 10 Millionenstadt Istanbul einen Parkplatz zu finden, sind unbegründet. Allerdings parken wir an der stark frequentierten vierspurigen Küstenstraße nicht gerade idyllisch. Bei den vielen Rastplatzübernachtungen sind wir an den Lärm der vorbei rauschenden Fahrzeuge schon gewohnt und mit nur zehn Gehminuten zur Sultan Ahmet Camii, die berühmte Blaue Moschee, stehen wir zudem sehr zentral. Noch am gleichen Abend gehen wir auf Streifzug. Hell erleuchtet ist die Blaue Moschee auch nachts ein Besuch wert. Wir wundern uns, dass die Pforten erst um 21:00 Uhr schließen und genießen die abendlich ruhige Atmosphäre in den heiligen Gemäuern.
Wir bleiben noch zwei weitere Tage, bummeln durch die Straßen und besuchen den Kapalı Çarşı, den großen (überdachten) Basar. Bekir aus Silivri beteuerte uns, „In Istanbul gibt es alles!“ und er hat recht. Tücher, Schuhe, Lampen, Schmuck und allerlei handgefertigtes laden zum Kauf ein, aber vor allem die Gewürze und getrocknete Früchte haben es uns angetan. Am liebsten säckeweise würden wir sie einpacken, die Kichererbsen in allen Variationen, Sonnenblumen- und Kürbiskerne, Mandeln, Walnüsse, Maulbeeren, Datteln, Feigen, Aprikosen und vieles mehr! Unglaublich lecker und vergleichsweise günstig, aber wir halten uns zurück. Im Gegensatz zum üblichen Dreiwochen- Urlaub, können wir es uns nicht erlauben Großeinkäufe zu tätigen. Unser Budget für die gesamte Reise ist hart kalkuliert: 20 Euro pro Tag für Essen und „Taschengeld“ dürfen wir maximal ausgeben. Die Kosten für Diesel sind darin nicht enthalten, aber durch die Autobahngebühren, die sich bis Istanbul auf 200€ summiert haben, betragen unsere täglichen Ausgaben im Schnitt bis jetzt fast das Doppelte. Dennoch gönnen wir uns ein paar Leckereien, die wir genüsslich Abends im LKW knabbern.
Stets auf der Suche nach besonderen Fotomotiven entdecken wir ein besonders schönes Teppichgeschäft. Finden wir hier den berühmt berüchtigten türkischen Teppichhändler? Wir erklären, zwar keinen Teppich kaufen zu wollen, hingegen aber gerne ein paar Fotos schießen würden und werden überraschend herzlich empfangen. In Ruhe darf ich fotografieren. Motive gibt es genug, auf drei verwinkelte Stockwerke liegen und hängen die kostbar gewobenen Schätze, dazwischen, wohl selektiert, einige antike Möbel. „Feel like at home!“ – aber gerne doch! Die unzähligen Stoffe erzeugen eine seltsam gedämpfte Akustik. Alles strahlt eine unglaublich beruhigende Atmosphäre aus. Im Keller spiele ich mit dem spärlichen Licht, welches mir zum fotografieren zur Verfügung steht. Wieder einmal bekommen wir türkischen Tee angeboten. Wir setzen uns auf ein gemütliches Sofa und werden Zeuge eines langwierigen, aber spannenden Verkaufsakts: Ein junges asiatisches Pärchen, wir vermuten aus Korea, scheint reges Interesse am Kauf eines Teppichs zu haben. In regelmäßigen Abständen lässt Hüseyin, der Chef des Hauses neue Teppiche herbei holen und breitet sie demonstrativ auf dem Boden aus. Die Asiatin kriecht darauf herum, streicht mit der flachen Hand genüsslich darüber. Sie scheint das Hauptinteresse zu haben, ihr Mann hingegen sitzt etwas abseits, in der Hocke, umklammert sein kleines türkisches Teeglas. Dann fliegt erneut ein Teppich durch den Raum. Hat sich die Ware in der Mitte des Raumes zu einem kleinen Berg angehäuft, wird bis auf ein paar Exemplare alles weggeräumt und die Prozedur beginnt von Neuem. Die Koreaner reden so gut wie kein Wort, nur Hüseyin, selbst auf den Teppichen liegend, preist mit ruhiger Stimme und kurzen Sätzen die Ware. So liegt eine seltsam knisternde Anspannung im Raum, die nur durch das Ausbreiten und offerieren neuer Teppiche durchbrochen wird. Im Hintergrund spielt leise orientalische Musik. Mich wundert, dass kein einziges mal Preise genannt werden. Alles scheint System zu haben, jedoch steige ich nicht dahinter, aber ich bin auch kein Teppichhändler. Lediglich das es einen bestimmten Favoriten gibt, kristallisiert sich für mich heraus. Doch selbst nach über einer Stunde Teppichkrimi ist für uns nicht ersichtlich, ob ein Kauf kurz bevor steht – oder eben nicht. Wir genießen es die Zeit zu haben diesem Treiben so lange zuschauen zu können und sind erstaunt über die Geduld von Hüseyin. Dann plötzlich die Entscheidung, ein definitives „No“ von der treibenden weiblichen Kaufkraft aus Fernost, besiegelt einen schlechten Tag für die Teppichhändler. Wir bleiben noch bis die Asiaten das Geschäft verlassen haben und erfahren, dass das Pärchen bereits seit vier Tagen täglich mehrere Stunden zu Besuch war. Nachdem ich den Preis für den favorisierten Teppich erfrage, erklärt sich für mich, warum der asiatische Mann bisweilen den Eindruck erweckte, die Teppiche würden beißen: 25.000 Euro sollte das Sammlerstück kosten sollen. Da hätte ich auch gesagt, das Flöhe drin sitzen und wäre stattdessen lieber ein Jahr auf Weltreise gegangen 😉
Am nächsten Tag beschließen wir, dass dieses Erlebnis ein Eintrag in unser Reisegästebuch wert ist und lassen uns ein paar nette Zeilen eintragen.
Es ist Sonntag. Wenngleich das Wochenende hier nicht so arbeitsfrei ist wie bei uns in Deutschland, so ist dies doch der Tag an dem die meisten Menschen Zeit mit Ihrer Familie verbringen. Bei gutem Wetter zelebrieren die Türken dieses Zusammentreffen gerne ausgiebig in öffentlichen Parks. Auch zwischen der Küstenstraße und dem Meer befindet sich ein solcher Grünstreifen. Nach und nach strömen immer mehr Menschen aus der Umgebung dort hin, setzen sich auf große bunte Decken. Kinder rennen auf den Gehwegen, spielen Ball oder Fangen. Frauen schneiden Gurken und Tomaten, Männer feuern den mitgebrachten Grill an. Ich bin überrascht, welche Massen an Fleisch sich auf diesen Miniturexemplaren rösten lassen. Das ganze ist im Prinzip nichts anderes als eine kollektive riesige Grill-Party.
Da wir uns einen möglichst intensiven Kontakt mit den Menschen vorgenommen haben, finde ich Esther plötzlich mitten in einer Kurdenfamilie wieder. Sie sitze im Kreis mit jungen Frauen und lacht. Ich werde von den älteren Männer direkt eingewiesen: Frauen dort, Männer hier – „Türkisch“. Alles klar, kein Problem, ich nehme auf der Decke bei den Männern platz. Generell halten wir uns mit gegenseitigen Zuneigungen seit dem wir in der Türkei sind zurück. Zwar sieht man viele Frauen ohne Kopftuch, aber bis auf Händchenhalten ist in der Öffentlichkeit wenig zu sehen. Als Gäste des Landes wollen wir nicht unangenehm auffallen. Wir sehen genug missachtende Touristen, die selbst bei den noch frühlingshaft frischen Temperaturen hochsommerlich freizügig in der Stadt flanieren. Außerdem bereiten wir uns so schon ein wenig auf den Iran vor, wo wesentlich strengere Regeln herrschen.
Einer der Männer spricht wenige Broken englisch, die restliche Kommunikation erfolgt mit Wörterbuch und den wenigen türkischen Worten die ich beherrsche. Zu einer guten Unterhaltung gehört selbstverständlich auch Çay, Tee, und ich denke, ich habe in den letzten zehn Jahren weniger schwarzen Tee getrunken, als in den letzten fünf Tagen Türkei. Bald glüht auch der Grill unserer Gastgeber und kurz drauf gibt es Fleischspieße, Brot, gemischter Gurken und Tomatensalat und ebenfalls landestypisch: Frische Peperoni. Die Zeit vergeht. Wir genießen das Essen und die Atmosphäre, doch wir möchten noch mehr von Istanbul sehen. Wir bedanken uns herzlich, überreichen noch ein schnell ausgedrucktes Foto, bevor wir wieder aufbrechen.
Als wir am Abend aus der Stadt zurückkommen, liegt dicker Dunst über der Grünanlage und neben dem Alltagsstress, den die Einheimischen hier zurückgelassen haben, türmen sich auch die Abfälle, die mangels fehlender Mülltonnen überall in Plastiktüten verstreut herumliegen. Doch am nächsten Morgen ist davon nichts mehr zu sehen. Nachts scheinen Reinigungskräfte wie die Heizelmännchen alles wieder in Ordnung zu bringen. Insgesamt erleben wir die Türkei, im deutlichen Unterschied zu den zuvor durchreisten Balkanländern, mit zahlreichen wilden Müllkippen, als sehr sauberes Land. Auch die quasi nicht vorhandene Toilettenkeramik, die im Prinzip nur aus einem Loch im Boden mit eingebauter Spülung besteht, hat seine Vorteile, da nichts berührt werden muss. Die ganz typischen Installationen komplett ohne Toilettenpapier, mit einem kleinen Wasserhahn und Becher, erfordern allerdings ein wenig Umgewöhnung in der Anwendung…
Drei Tage Istanbul sind schnell vorbei. Uns hat es sehr gefallen, besonders wenn man bedenkt, dass wir keine Großstadtfans sind. Wir werfen den Diesel an, es geht weiter nach Izmit. Dort wollen wir eine Goodyear Fabrik besuchen und einige Dinge erledigen.