Ein abenteuerliche Abkürzung

Doĝubayazit, Türkei. Kilometer 4.580

ostanatolien_schnee.jpgAm 05.05. starten wir zur größten Tagesetappe der Türkei. Nach einer Fahrzeit von knapp neun Stunden legen wir die 480km lange Strecke von Erzincan nach Doğubeyazit zurück und überqueren dabei mehrere hohe Pässe. Nach dem Scheitelpunkt des 2.300m hohen Saç Geçidi Pass geht es steil hinab. Ich versuche einen kleinen Gang einzulegen, aber er klemmt. Schnell ist mir klar, dass unser kleines Motorrad, welches zwischen Wohnkoffer und Fahrerhaus befestigt ist, nach vorne gerutscht sein muss und nun das Getriebegestänge behindert. Wir stoppen und ich mache mich daran unser Zweirad mit Spanngurten neu zu verzurren. Hier oben ist es so kalt, dass wir im Fahrerhaus die Heizung einschalten. Dazu bläst draußen eisig der Wind und zusätzlich setzt Schneeregen ein. Im Frühjahr kann es im Osten der Türkei noch empfindlich kalt werden. Vor einem Jahr, im April, kämpften uns bekannte Overlander in Doğubeyazit (1580m) mit nächtlichen Temperaturen von Minus 20 Grad. Dann hilft nur Motor laufen lassen oder ein offenes Feuer unter dem Dieseltank. Mit knapp über Null, haben wir es im Vergleich kuschelig warm. Wenig später ist die DAX wieder ordentlich verstaut und die Fahrt kann weitergehen.
In Erzurum legen wir einen kleinen Stop ein, denn Esther muss shoppen gehen. Sie braucht einen Mantel, den Sie im Iran, neben dem obligatorischen Kopftuch, tragen wird. Doch mit dem überteuerten, dunkelblauen „Lappen“, den wir erstehen, kann ich mich nicht so recht anfreunden. Esther sieht es gelassen und das ist die Hauptsache, denn immerhin muss sie ihn (er)tragen und nicht ich.
Bevor wir uns wieder auf die Straße begeben, stärken wir uns in einem kleinen Restaurant. Nun ja, „klein“ ist wohl etwas untertrieben, „winzig“ umschreibt es passender. Wir dachten es handelt sich um einen Straßenverkauf, doch in der Kebab-Bude, in der Große unseres Wohnkoffers, kuscheln 11 Personen an kleinen Tischen. Unter ihnen einige Jugendliche, die gerade von der Schule kommen. Sofort sind wir Gesprächsthema Nummer Eins. Eingepfercht in einer Ecke schneidet ein Mann das Fleisch vom Spieß. Reis und Salat wird aus einer kleinen Luke in den Raum gereicht, hinter der sich wahrscheinlich eine besenkammergroße Küche befindet. Wir verspeisen gleich drei Postionen Chicken-Kebab mit Reis und Salat, dazu trinken wir Ayran, ein typisches türkisches Erfrischungsgetränk auf Joghurtbasis. Auch hier war unsere Strategie wieder einmal goldrichtig dort zu speisen, wo sich die meisten Einheimischen tummeln, egal wie es dort aussieht.
In Doğubeyazit angekommen ist es bereits dunkel geworden, doch wir finden einen guten Platz zum Schlafen auf dem Gelände einer ehemaligen Tankstelle, die nun von einer kleinen Spedition genutzt wird. Auf dem Gelände trinken wir in einem einfaches Restaurant einen Tee mit dem Besitzer, der uns stolz erzählt, dass er 11 Söhne hat. „Foodball!“, sagt er lachend dazu. Doch das Lachen hat schnell ein Ende, denn in der Ecke flimmert ein Fernseher und wir erfahren, dass es weiter südlich ein Massaker auf einer Hochzeit gegeben hat. Über 40 Personen, darunter Frauen und Kinder, starben im Kugelhagel. Ein Familien-Clan missbilligte die Hochzeit, wodurch sich ein paar von Ihnen zu dieser Gräueltat hinreissen liessen. Schrecklich.

sarayi_panorama.jpgAm nächsten Tag besichtigen wir den . Der in Ruinen liegende Palast gilt als eines der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Türkei, schreibt zumindest Wikipedia und sogar wir museumsscheue Touristen, sind von der Anlage fasziniert, verbringen fast zwei Stunden im Palast, der einmal 366 Zimmer gezählt haben soll. Uns gelingen ein paar schöne Fotoaufnahmen. Vor dem Palast treffen wir auf Nuro, einem Deutsch-Türken, der seit ein paar Tagen auf dem Campingplatz 100m unterhalb der Sarayı gastiert. Er trägt moderne Trekkingkleidung und reist seit drei Jahren durch die Welt, unter anderem viel im Norden Europas. Während wir mit mehreren Tonnen „Gepäck“ durch die Welt reisen, reicht ihm ein sehr kleiner Rucksack. „Das ist noch viel. Ich will noch optimieren und mit weniger auskommen.“, meint er. Ich finde diese Einstellung bewundernswert. Trotz unserer ungleichen Reiseart, entdecken wir viele Gemeinsamkeiten in unseren Denkweisen über das Leben und Leben lassen. So entwickelt sich in den nächsten Tagen eine neue kleine Freundschaft.
Unter einem Campingplatz verstehen wir Europäer gewöhnlich etwas anders, aber immerhin gibt es eine warme Dusche und frisches Wasser aus einer Quelle. So verbringen wir dort einige Tage, denn wir wollen dem Durcheinander in unserem kleine Zuhause langsam ein Ende setzen. Ich zimmere das längst überfällige Bücherregal aus dem mitgebrachten Holz aus Ankara und damit ist wieder eine Kiste weniger im Weg. Juhu!

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Mit Nuro unternehmen wir einen sehr schönen Ausflug in die Umgebung. Unser Ziel ist ein winziges Dorf auf einem kleinen Plateau an dem Bergen um Doğubeyazit. Wir wollen ein wenig raus aus der Zivilisation. Querfeldein wandern wir über mehrere Hügelketten und erreichen nach etwa drei Stunden die kleine Gemeinde. Schnell werden wir entdeckt. Heftig bellende Hunde kündigen unseren Besuch an. Eine Frau hängt ihre Wäsche auf, verschwindet jedoch rasch im Haus. Aus einem anderen Haus kommt uns ein älterer Mann entgegen. Nuro wechselt in Landessprache ein paar Worte mit ihm. Kurz darauf sind wir zum Tee auf der kleinen Wiese vor seinem Haus eingeladen. Eigentlich wollten wir den typischen Ayran kosten, doch der wird aus Schafsmilch hergestellt und die gibt es zur Zeit nicht, da die Schafe ihre Lämmer säugen. Vorwitzig tapsen diese um uns herum. Als Ausgleich bekommen wir leckeres selbstgebackenes Brot. Der Bauern erzählt, dass  immerhin 26 Familien im Dorf leben und wie fast überall findet auch hier eine gewissen Landflucht statt. Von den Jugendlichen will kaum jemand mehr Schafhirte sein oder Knochenarbeit auf dem Feld verrichten. Das Dorf ist mittlerweile auch über eine kleine Strasse von Doğubeyazit aus zu erreichen, doch die meisten Dinge zum Leben stellen die Menschen noch selbst her. Das Wasser holen sie aus den Bergen, wer das Geld für ein langes Kunststoffrohr hat, legt sich eine kleine Pipeline. Ein Anschluss aus der Stadt gibt es nicht und könnte sich niemand leisten. Immerhin gibt es Strom.

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Die Menschen leben bescheiden. Während unseres Gesprächs beobachten wir das Häuschen des Bauern, eine typische, einfache Lehmhütte mit Flachdach. Neugierig lassen sich immer wieder kleine Kinder blicken. Die Mutter sehen wir nur einen kurzen Moment beim Wasserholen aus dem Nebenraum. Die Behausung scheint aus zwei Räumen zu bestehen, die nur über zwei Außentüren zu betreten sind. Zwar besteht der Fussboden aus Lehm, dennoch springen  auch hier die Kinder feinsäuberlich aus den Schuhen bevor sie wieder im Haus verschwinden.
Wir machen uns wieder auf, zurück zu unserem Palast auf vier Rädern. Nachdem wir ständig an stark frequentieren Rastplätzen gestanden haben, war dies ein schönes kleines Erlebnis. Wir freuen uns schon sehr auf unsere ersten längeren Trekkingtouren in Indien und Nepal.
Unter Zeitdruck wollten wir schnell über die Grenze in den Iran. Nun, wo der Grenzübertritt nur einen Steinwurf entfernt liegt, zögern wir. Jetzt, wo wir einige Worte in türkisch gelernt und ein Gefühl für das Land gewonnen haben, möchten wir am liebsten noch ein paar Tage bleiben. Doch auch das für uns unbekannte Iran ruft. Nuro zieht es ebenfalls nach Osten, würde am liebsten direkt mit uns fahren, doch mit seinem deutschen Pass kann er nicht mehr spontan in den Iran. Mit einem türkischen Pass wäre dies möglich gewesen. Wir entschließen uns wenigstens gemeinsam in den Süden nach Van zu fahren. Der Vansee soll sehr schön sein soll und von dort kommt man auch zu einen Grenzübergang in den Iran.
 
Viel zu spät brechen wir also auf um die 170m km nach Van in Angriff zu nehmen. Der Weg führt uns über einen 2.600m hohen Pass und wieder einmal fahren wir in die Dunkelheit hinein. Doch die Straßen sind gut und wohlbehalten erreichen wir ein paar Stunden später Van. Wir suchen ein Restaurant, das uns mehr als nur Reis-Kebab bietet, was uns bisher nicht wirklich gelungen ist. Immerhin haben wir eine deutsch-türkisch sprechende Unterstützung dabei. Wir bekommen ein Eintopfgericht und Hackfleischbällchen in Tomatensoße, was zwar nicht schlecht schmeckt, uns jedoch keine Gaumenfreuden entlockt. Doch wir geben die Hoffnung nicht auf, irgendwo muss doch all das leckere Gemüse zubereitet werden.
Wir verbringen die Nacht auf einem kargen Platz vor einer großen Ruinenanlage am Van-See. Da Nuro bereits um 8:30 Uhr mit dem Bus nach Tunceli, seiner Heimatstadt, weiterreist und wir einige Zeit damit verbringen einen Internetzugang zu finden, bekommen wir auch nicht wirklich sehenswertes zu Gesicht. Irgendwie treibt es uns nun doch an die Grenze in den Iran.
Unser Weg führt uns auf wenig befahren Straßen Richtung Osten. Nach knapp einer Stunden und nahezu keinem Verkehr, beschleicht uns das Gefühl, dass die Grenze eventuell gar nicht geöffnet ist. Tatsächlich erreichen wir wenig später ein geschlossenes Eisentor, hinter dem sich ein großer Platz und verlassene Hallen befinden. Etwas rechts von uns, an einer Bahnlinie, befindet sich ein größerer belebter Militärposten. Mit dem Auto scheint es hier wirklich nicht weiter zu gehen. Ich erkenne keine Straße, die hier als Grenzübergang genutzt werden könnte. Zu Fuß laufe ich auf das Gelände hinter dem Tor um mich von der Misere zu überzeugen. Ein Zaun trennt das Gelände. Auf den Gebäuden der anderen Seite weht die Iranische Flagge. Wenngleich es auch auf der iranischen Seite recht lebhaft zugeht, ist deutlich zu sehen, dass hier schon lange kein Grenzverkehr mehr abgewickelt wurde.Ich überquere eine kleine Brücke Richtung Militärposten um mich davon zu überzeugen, ob es nicht doch eine Möglichkeit des Grenzübertritts gibt. Doch den gibt es nicht, denn die jungen Soldaten erklären mir, dass wir uns hier auf militärischen Sperrgebiet befinden. Etwas seltsam, da die Straße in keinster Weise derart ausgeschildert war – zumindest nicht für uns les- oder erkennbar.
Da hilft kein Zähneknirschen – wir müssen zurück nach Doğubeyazit. Das schmeckt uns gar nicht. Eine Strecke doppelt zu fahren ist schon blöd genug, zum Anderen müssen wir im Iran ohnehin wieder Richtung Süden und das uns dieser Umweg nun 180 Euro an Diesel kostet, macht die Sache nicht besser. Ein Blick auf die Karte zeigt uns, dass es noch eine Alternative des Grenzübertritts weiter im Süden gibt. Einige Gebiete zum angrenzenden Irak sind jedoch türkisches Sperrgebiet. Da ist uns das Risiko zu groß eine noch größere Strecke zurückfahren zu müssen. Stattdessen entscheiden wir uns nach einer Abkürzung zu suchen, die uns nicht über Van, sondern direkt nach Doğubeyazit führt. So eine „Abkürzung“ ist zwar nirgends auf unserer Karte eingezeichnet, aber wenn ich mir den Umweg über Van anschaue, wird es bestimmt eine direkte Route geben.
So biegen wir an der nächsten größeren Kreuzung „rechts ab“. Auf unserem GPS sind natürlich auch keine Straßen eingezeichnet, aber wir können uns immerhin an ein paar kleineren Ortsnahmen auf der Karte und der Himmelsrichtung orientieren. Unsere anfängliche Abenteuerlust wird jedoch schnell befriedigt, als die ohnehin schlaglochgesprickte kleine Asphaltstraße mit einem Mal endet und zur Piste mit Schlammlöchern wird. Auf halber Strecke ein Blick in die Tanks: Fast leer. Auf jeden Fall kommen wir damit nicht bis zur nächsten größeren Stadt Çaldira. In einem Dorf klopfen wir irgendwo an der Türe, fragen nach Diesel. Ein Mann deutet uns, wir würden beim Markt Sprit bekommen. Wir befinden uns nun wirklich auf dem Land: Auf Schlammwegen, teilweise mehr Wasser als Weg, kommen wir im Dorfshop an. Natürlich bleibt unser lautstarkes Auftauchen nicht unbemerkt und schnell wird unser Besuch zum Ereignis des Tages. In einer Baracke neben dem Laden lagert der Sprit in dubiosen Fässern. Der Preis ist schnell geklärt: 80 Eurocent pro Liter sind denkbar günstig für die Türkei – wo das Zeug her ist, will ich gar nicht wissen. Zu Sicherheit packe ich unseren Spezialtrichter aus. Die Leute stauen nicht schlecht: Im Trichter ist ein Filter mit Wasserabscheider eingebaut. Tatsächlich laufen die per Hand abgefüllten 60 Liter problemlos durch den Filter, bis auf einen kleinen Rest, den ich dem Händler dankend zurückgebe. Nach einem Cay und ein paar türkischen Worten setzen wir unser Abenteuer fort.
wellblech_schlammpiste.jpgDie Piste wird immer katastrophaler. Der Tachozeiger zuckt schon lange nicht mehr, das GPS zeigt bisweilen Geschwindigkeiten zwischen 2 und 6km/h an – da ist man schneller zu Fuß unterwegs. Dunkel wird es auch schon und wenn es in diesem Tempo weitergeht, benötigen wir noch Stunden bis nach Çaldiran. Anfangs konnte ich den Schlaglöchern noch ausweichen, jetzt besteht der Weg nur noch aus Schlammlöchern, durch die ich mitten durch muss. Esther kommt sich vor wie beim Rodeo. LKW und Aufbau schaukeln wild hin und her, der Rahmen knarrt beängstigend unter dem ständigen Lastwechsel. Jetzt ein Panne wäre grausam. Auf der gesamten Fahrt begegnet uns kein Verkehr. Wer fährt schon freiwillig solche Wege. In einem weiteren Dorf überlegen wir zu übernachten, doch es stinkt nach verbranntem Plastik und insgesamt wirkt es für uns alles andere als Einladend. Wir fahren weiter.
Ich klammere mich an eine Theorie: Wenn wir den Scheitelpunkt der Strecke hinter uns haben und wir uns der nächsten Stadt nähern, müsste die Straße sicherlich wieder besser werden. Im Rückspiegel tauchen Scheinwerfer eines weiteren LKW auf, für den ich kurz zur Seite fahre, damit er überholen kann. Er bedankt sich mit einem kurzen Hupen und ist bald darauf ein gutes Stück vor uns. Wenig später steht er am Straßenrand und scheint mit einem kleinen Reservekanister zu hantieren. Ich versichere mich ob alles in Ordnung ist und fahre weiter. Kurz darauf überholt er mich wieder, hupt. Dann steht er wieder am Rand, tankt. Ich überhole, hupe. Das ganze ereignet sich noch insgesamt zwei Mal und ich frage mich wie viele kleine Reservekanister er wohl dabei haben mag. Die Situationskomik heitert uns ein wenig auf – wahrscheinlich auch, weil wir hier nicht ganz alleine sind.
strasse_abkuerzung.jpgBewahrheitet sich meine Theorie: Aus dem nichts taucht eine Teerstrasse auf und wir können wieder Gas geben. Welch ein krasses Gefühl nach dieser Strecke wieder ebenen Boden unter den Rädern zu haben. Wir atmen auf und erreichen eine halbe Stunde später Çaldiran, wo wir die nächste Tankstelle zum übernachten ansteuern. Dort treffen wir erneut den Truckfahrer, „unseren Freund von der Schlammpiste“. Wir trinken Çay, lachen und sind erleichtert dieses kleine Abenteuer ohne Blessuren überstanden zu haben. Schließlich sind das die Geschichten von denen wir später grinsend erzählen können.

Morgen geht es weiter nach Doğubeyazit und dann endlich über die Grenze in den Iran.